Essen: Tafelstreit rückt Armut in Deutschland in den Blickpunkt
Die Debatte über die Überlastung der Essener Tafel durch den Flüchtlingsandrang rückt die Armutspolitik der Bundesregierung in den Blickpunkt. Ein Bündnis von 30 Sozial- und Wohlfahrtsorganisationen forderte in einer am Dienstag in Berlin vorgestellten Erklärung die kommende Regierung aus Union und SPD auf, die Regelsätze in der Grundsicherung deutlich anzuheben. Die Organisationen warnten davor, Flüchtlinge und Arme gegeneinander auszuspielen.
"Dass Menschen, egal welcher Herkunft, überhaupt die Leistungen der Tafeln in Anspruch nehmen müssen, ist Ausdruck eines politischen Versagens in diesem reichen Land", heißt es in der Erklärung. Für alle in Deutschland lebenden Menschen müsse das Existenzminimum sichergestellt sein. "Die Regelsätze in Deutschland sind zu gering, um grundlegende Bedürfnisse abzudecken", erklärte das Bündnis. Die Erklärung kam kurzfristig zustande und ist nach Angaben von Ulrich Schneider, Hauptgeschäftsführer des Paritätischen Gesamtverbands, eine Reaktion auf den Streit über die Essener Tafel. Diese hatte im Januar beschlossen, vorläufig keine weiteren Ausländer in die Ausgabe gespendeter Lebensmittel einzubeziehen.
"Wir beobachten, dass diese Entscheidung zum Anlass genommen wird für rassistische Hetze und das Schüren von Vorurteilen gegenüber Ausländern", sagte Schneider. Arme Menschen anhand ihres Passes auszuschließen, sei "objektiv eine ethnische Diskriminierung und muss korrigiert werden". Schneider begrüßte den geplanten runden Tisch in Essen, um andere Lösungen zu finden - etwa Schutzbedürftige wie Ältere und Frauen bevorzugt zu behandeln.
Dem Bündnis gehören neben dem Paritätischem und der Tafel Deutschland der Deutsche Gewerkschaftsbund, der Deutsche Kinderschutzbund, die Arbeiterwohlfahrt und 25 weitere bundesweit tätige Organisationen an. In ihrer Erklärung rügten sie beispielhaft die Berechnung der Lebensmittelbedarfe von Hartz-IV-Empfängern: Für Kinder zwischen sechs und 14 Jahren seien täglich nur 3,93 Euro für Ernährung und Getränke vorgesehen.
Hier werde "trickreich kleingerechnet", sagte Schneider. Die Organisationen forderten, den Hartz-IV-Satz um mindestens 100 bis 150 Euro anzuheben. Zudem müsse mehr für den sozialen Wohnungsbau und gegen Langzeitarbeitslosigkeit sowie Kinder- und Altersarmut getan werden.
"Die Sicherung des Existenzminimums ist Aufgabe des Staats, sie kann nicht auf die Zivilgesellschaft abgewälzt werden", sagte Schneider mit Blick auf die Tafeln. "Die letzten Wochen haben gezeigt, wohin es führt, wenn der Staat ehrenamtliche Hilfsorganisationen wie die Tafeln mit Aufgaben allein lässt, die größer sind als sie selbst" erklärte Jochen Brühl, Vorsitzender der Tafel Deutschland.
Flüchtlinge müssten als "Sündenböcke" für die Sozialpolitik der Bundesregierung herhalten, kritisierte Günter Burkhardt von Pro Asyl. "Nicht die Flüchtlingspolitik besorgt die Probleme, sondern die verfehlte Sozialpolitik", sagte Barbara Eschen, Sprecherin der Nationalen Armutskonferenz.
Schneider kritisierte, dass nicht die Ankunft hunderttausender Flüchtlinge seit dem Jahr 2015 ursächlich für die hohe Nachfrage nach Lebensmittelspenden sei. "Der große Wachstum der Tafeln fand um die Jahre 2003 bis 2007 statt", sagte Schneider. In dieser Zeit wurde die von der rot-grünen Bundesregierung unter Kanzler Gerhard Schröder (SPD) beschlossene Reform der Sozialgesetze implementiert.
(L. Brown--BTZ)